Kernaussagen
- Es gibt nicht genügend Evidenz für die Beantwortung der Frage, ob das frühzeitige Bewegen des Arms nach Ruhigstellung in einer Schlinge für eine Woche verglichen mit einer Ruhigstellung in einer Schlinge für drei oder mehr Wochen einen Unterschied in der langfristigen Funktionsfähigkeit der Schulter oder der Entwicklung von Schulterproblemen bewirkt.
- Patienten berichten, dass eine Operation bei den meisten Formen von verschobenen Brüchen (bei denen sich die Bruchstücke voneinander entfernt haben) nicht zu einer besseren Funktionsfähigkeit der Schulter führt als eine nicht-operative Behandlung. Eine Operation birgt jedoch möglicherweise ein höheres Risiko für Folge-Operationen aufgrund von Komplikationen.
- Es gibt nicht genügend Evidenz für die Beantwortung der Frage, welches die beste Operationsmethode ist.
Was ist eine proximale Humerusfraktur?
Der proximale Humerus ist das obere Ende des Oberarmknochens. Ein Bruch des proximalen Humerus ist eine häufige und schwerwiegende Verletzung älterer Menschen. Er wird verbreitet auch Schulterbruch genannt. Es kann mehrere Monate dauern, bis die Betroffenen ihren Arm wieder benutzen können. Bewegungseinschränkungen und Schmerzen sind häufige Spätfolgen.
Wie werden diese Brüche üblicherweise behandelt?
Die Behandlung umfasst:
- eine nicht-operative Behandlung: Der verletzte Arm wird für eine oder mehrere Wochen in einer Schlinge ruhiggestellt;
- eine operative Behandlung: diese wird bei verschobenen Brüchen durchgeführt, bei denen sich die Bruchstücke voneinander entfernt haben. Bei der Operation können die Bruchstücke wieder in ihre natürliche Stellung gebracht und mit Schrauben in einer Metallplatte oder einem Nagel im Knochenmark befestigt werden. Bei älteren Menschen kann unter Umständen auch das Schultergelenk, oder ein Teil davon (die „Kugel“ oder die Gelenkpfanne), durch künstliche Teile (ein Metallimplantat) ersetzt werden. Bei einer Hemiarthroplastik wird nur der Oberarmkopf (die „Kugel“) ersetzt. Immer häufiger wird eine inverse Schulter-Totalendoprothese eingesetzt. Beim Einsatz einer inversen Totalendoprothese wird nicht nur das gesamte Gelenk ersetzt, sondern wird zudem die Position des Oberarmkopfes und der Gelenkpfanne vertauscht. Nach der Operation wird der verletzte Arm zunächst in einer Schlinge ruhiggestellt.
An alle Behandlungen schließt sich eine Rehabilitation an.
Was wollten wir herausfinden?
Wir wollten herausfinden, wie sich die Funktionsfähigkeit der Schulter am besten wiederherstellen und sich schädliche Behandlungsfolgen bei Erwachsenen mit Oberarmkopfbrüchen vermeiden lassen.
Wie gingen wir vor?
Wir suchten in medizinischen Datenbanken nach Studien, in denen die Behandlung von Oberarmkopfbrüchen bei Erwachsenen untersucht wurde. Anschließend fassten wir diese Ergebnisse zusammen und bewerteten unser Vertrauen in die Evidenz anhand von Merkmalen wie der Qualität und Größe der Studien.
Was fanden wir?
Wir fanden 47 Studien mit insgesamt 3179 Erwachsenen mit einem Oberarmkopfbruch. Die Studien wurden in 21 Ländern durchgeführt. In den meisten Studien wurden die Teilnehmenden über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr nachbeobachtet. Die meisten der Teilnehmenden waren 60 Jahre alt und älter; über zwei Drittel waren Frauen. In 12 Studien wurde eine nicht-operative Behandlung untersucht; in 10 Studien wurde eine operative Behandlung mit einer nicht-operativen Behandlung verglichen; in 23 Studien wurden zwei verschiedene Operationsmethoden miteinander verglichen; und in zwei Studien wurde der Zeitpunkt des Beginns der Mobilisation (des Bewegens) der Schulter nach der Operation untersucht.
Hauptergebnisse
In dieser Zusammenfassung konzentrieren wir uns auf drei Schlüsselfragen.
1. Ist es besser, die Schulter innerhalb der ersten Woche nach dem Bruch zu bewegen oder mit dem Bewegen erst nach drei oder mehr Wochen zu beginnen?
Aufgrund der begrenzten Evidenz aus fünf Studien zur nicht-operativen Behandlung ist unklar, ob ein frühzeitiges Bewegen des Arms einen oder keinen Unterschied in der langfristigen Funktionsfähigkeit der Schulter oder der Entwicklung von Schulterproblemen bewirkt.
2. Ist eine operative Behandlung bei den meisten Formen von verschobenen Brüchen besser als eine nicht-operative Behandlung?
In zehn Studien wurde untersucht, ob eine operative Behandlung bei Erwachsenen mit verschobenen Brüchen zu besseren Ergebnissen führte als eine nicht-operative Behandlung. Es gab überzeugende Evidenz dafür, dass es zwischen einer operativen und nicht-operativen Behandlung nach einem Jahr und zwei Jahren, und wahrscheinlich auch nach sechs Monaten, keine wesentlichen Unterschiede in der von den Patienten bewerteten Funktionsfähigkeit der Schulter gibt. Es gibt überzeugende Evidenz dafür, dass sich die Lebensqualität zwischen den beiden Behandlungsarten nach einem Jahr nicht bedeutsam unterscheidet. Einunddreißig Teilnehmende starben, jedoch wurde nur ein Todesfall mit der Operation in Verbindung gebracht. Eine Operation geht möglicherweise mit einem höheren Risiko für die Notwendigkeit von Folge- Operationen und Komplikationen einher. Es ist jedoch auch nicht auszuschließen, dass nach einer nicht-operativen Behandlung mehr Schulterprobleme auftreten.
3. Welches ist die beste Operationsmethode?
Wir haben zwei wichtige Vergleiche ausgewählt.
- In vier Studien wurde die operative Fixierung (Befestigung) des Bruchs durch eine Platte oder einen Nagel verglichen, nachdem die Bruchstücke wieder in ihre natürliche Stellung gebracht worden waren. Die Wahl der einen oder anderen Methode bewirkt möglicherweise keinen Unterschied in der Funktionsfähigkeit der Schulter. Die sehr begrenzte Evidenz bedeutet, dass unklar ist, ob die Wahl der Operationsmethode die Lebensqualität, das Auftreten von nachteiligen Wirkungen oder die Notwendigkeit von Folge-Operationen beeinflusst.
- Zwei Studien, in denen der Einsatz einer inversen Totalendoprothese mit einer Hemiarthroplastik verglichen wurde, ergaben, dass sich die Funktionsfähigkeit der Schulter in einem vergleichbaren Ausmaß verbesserte, dass nach dem Einsatz einer inversen Totalendoprothese jedoch seltener Folge-Operationen durchgeführt wurden. Insgesamt gibt es jedoch nicht genügend Evidenz für eine Aussage darüber, ob die eine Form des Gelenkersatzes besser ist als die andere.
Welche Einschränkungen der Evidenz sind zu beachten?
Wir haben Vertrauen in das Ergebnis, dass es bei den meisten Arten von verschobenen Frakturen bezogen auf die Funktionsfähigkeit der Schulter oder Lebensqualität keinen Unterschied zwischen einer operativen und nicht-operativen Behandlung gibt. Dementgegen sind wir uns bei anderen Ergebnissen unsicher, weil es meist nicht genügen Evidenz gab.
Wie aktuell ist die Evidenz?
Dieser Review ist die Aktualisierung eines Reviews, der 2015 veröffentlicht wurde. Die Evidenz ist auf dem Stand von September 2020.
C. Braun, T. Bossmann, in Kooperation mit Cochrane Deutschland