Sind intravenöses Immunglobuline für Menschen mit chronisch entzündlicher demyelinisierender Polyradikuloneuropathie sicher und wirksam?

Kernaussagen

- Intravenöse Immunglobuline (IVIG) führen im Vergleich zu einer Scheinbehandlung zu einer Verbesserung der Behinderung für mindestens zwei bis sechs Wochen.
- Während dieses Zeitraums sind IVIG wahrscheinlich ebenso wirksam wie Plasmaaustausch und Steroide.
- Eine Studie zeigte, dass die Wirkung von IVIG sechs Monate lang anhielt. Es sind jedoch weitere Forschungen erforderlich, um herauszufinden, ob der Nutzen möglicherweise noch länger anhält und wie die langfristigen Nebenwirkungen aussehen.

Was ist eine chronisch entzündliche demyelinisierende Polyradikuloneuropathie?

Die chronisch entzündliche demyelinisierende Polyradikuloneuropathie (CIDP) ist eine Krankheit, bei der sich Nerven entzünden und zu Lähmungen führen. Die wahrscheinliche Ursache ist, dass der Körper seine eigenen Nerven angreift.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es für die chronisch-entzündliche demyelinisierende Polyradikuloneuropathie?

Die CIDP erfordert in der Regel eine langfristige Behandlung, um weitere Behinderungen zu verhindern. Über die beste Behandlung gibt es eine lebhafte Diskussion. Eine Möglichkeit sind Immunglobuline, die aus gereinigten Antikörpern aus menschlichem Spenderblut hergestellt und über einen venösen Tropf verabreicht wird. Es ist bekannt, dass Steroide und Plasmaaustausch (ein Verfahren zur Entfernung und zum Austausch der Plasmakomponente des Blutes) wirksam sind.

Was wollten wir herausfinden?

Wir wollten wissen, ob Immunglobuline besser als Placebo (Scheinbehandlung), Plasmaaustausch oder Steroide zur Verbesserung der Behinderung bei Menschen mit CIDP geeignet sind. Wir wollten auch wissen, ob Immunglobuline bei CIDP-Patient*innen unerwünschte Wirkungen haben.

Wie gingen wir vor?

Wir suchten nach Studien, die Immunglobuline im Vergleich zu Placebo, Plasmaaustausch oder Steroiden bei Menschen mit CIDP untersuchten. Wir verglichen die Ergebnisse der Studien, fassten sie zusammen und bewerteten die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz anhand von Faktoren wie der Studienmethodik und Studiengröße.

Was fanden wir?

Neun Studien, an denen 372 Menschen mit CIDP teilnahmen, kamen für diesen Review in Frage. In fünf Studien wurden Immunglobuline mit Placebo verglichen, in einer Studie wurden Immunglobuline mit einem Plasmaaustausch verglichen, in zwei Studien wurden Immunglobuline mit einem Steroid namens Prednisolon verglichen und in einer Studie wurden Immunglobuline mit einem Steroid namens Methylprednisolon verglichen.

Hauptergebnisse

Die Evidenz aus fünf Studien zeigt, dass Immunglobuline im Vergleich zu Placebo die Zahl der Personen erhöhen, die nach zwei bis sechs Wochen Behandlung eine relevante Verbesserung der Behinderung aufweisen. Von vier Personen, die behandelt werden, erfährt im Vergleich zu Plazebo eine zusätzliche Person eine deutliche Verbesserung. Die Evidenz aus einer Studie lässt den Schluss zu, dass die Behinderung bei den mit Immunglobulinen behandelten Personen nach 24 Wochen wahrscheinlich geringer ist als bei Personen, die ein Placebo erhalten. Das Risiko schwerwiegender unerwünschter Wirkungen von Immunglobulinen ist wahrscheinlich ähnlich wie das von Placebo.

Die Ergebnisse von zwei weiteren Studien zeigten, dass Immunglobuline wahrscheinlich nicht besser als Steroide (Prednisolon oder Methylprednisolon) die Behinderung verbesserten. Das Risiko schwerer Nebenwirkungen unterscheidet sich wahrscheinlich nicht oder nur geringfügig zwischen Immunglobulinen und Prednisolon. Das gleiche gilt für den Vergleich von Immunglobulinen und Methylprednisolon. Bei allen Behandlungen trat bei weniger als einer von 10 Personen eine schwerwiegende Nebenwirkung auf.

Was schränkt die Evidenz ein?

Es liegt vertrauenswürdige Evidenz vor, dass Immunglobuline im Vergleich zu Placebo die Wahrscheinlichkeit einer Verbesserung der Behinderung nach zwei bis sechs Behandlungswochen erhöhen. Bei den meisten anderen Ergebnissen sind wir jedoch nur moderat sicher, da die statistische Analyse darauf hindeutet, dass die Wirkungen von Immunglobulinen positiv oder negativ sein könnten.

Jede Studie definierte die Verbesserung auf ihre eigene Weise, und die Studien verwendeten unterschiedliche Messskalen. Es ist daher schwierig, diese Ergebnisse direkt mit Veränderungen im klinischen Zustand von Menschen mit CIDP in Beziehung zu setzen. Weitere Forschungen sind erforderlich, um den langfristigen Nutzen und Schaden von Immunglobulinen im Vergleich zu anderen Behandlungen zu bewerten.

Wie aktuell ist die Evidenz?

Es handelt sich um eine Aktualisierung eines erstmals 2002 veröffentlichten und zuletzt 2013 aktualisierten Reviews. Die letzte Suche nach Studien erfolgte im März 2023.

Schlussfolgerungen der Autoren: 

Die Evidenz aus RCTs zeigt, dass IVIG im Vergleich zu Placebo die Behinderung für mindestens zwei bis sechs Wochen verbessern, mit einer Number needed to treat für ein zusätzliches günstiges Behandlungsergebnis von 4. In diesem Zeitraum sind IVIG wahrscheinlich ähnlich wirksam wie orales Prednisolon und IVMP. Es ist unwahrscheinlich, dass weitere placebokontrollierte Studien diese Schlussfolgerungen ändern werden. In einer großen Studie hielt der Nutzen von IVIG im Vergleich zu Placebo in Bezug auf die Verbesserung des Behinderungsgrads über 24 Wochen an. Weitere Forschungen sind erforderlich, um den langfristigen Nutzen und Schaden von IVIG im Vergleich zu anderen Behandlungen zu beurteilen.

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Hintergrund: 

Die chronisch-entzündliche demyelinisierende Polyradikuloneuropathie (CIDP) verursacht eine fortschreitende oder rezidivierende Schwäche und Taubheit der Gliedmaßen, die mindestens zwei Monate lang anhält. Unkontrollierte Studien haben ergeben, dass intravenöse Immunglobuline (IVIG) zur Linderung der Symptome beitragen könnten. Es handelt sich um eine Aktualisierung einer erstmals 2002 veröffentlichten und zuletzt 2013 aktualisierten Übersicht.

Zielsetzungen: 

Ziel dieses Reviews war Bewertung der Wirksamkeit und Sicherheit von intravenösen Immunglobulinen bei Menschen mit chronisch entzündlicher demyelinisierender Polyradikuloneuropathie.

Suchstrategie: 

Wir haben das Cochrane Neuromuscular Specialised Register, CENTRAL, MEDLINE, Embase und zwei Studienregister am 8. März 2023 durchsucht.

Auswahlkriterien: 

Wir haben randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) und Quasi-RCTs ausgewählt, in denen eine beliebige Dosis IVIG im Vergleich zu Placebo, Plasmaaustausch oder Kortikosteroiden bei Menschen mit definitiver oder wahrscheinlicher CIDP getestet wurde.

Datensammlung und ‐analyse: 

Wir verwendeten die standardisierten Cochrane-Methoden. Unser primärer Endpunkt war eine relevante Verbesserung der Behinderung innerhalb von sechs Wochen nach Behandlungsbeginn, wie von den Studienautoren festgelegt und definiert. Unsere sekundären Endpunkte waren die Veränderung des mittleren Behinderungs-Scores innerhalb von sechs Wochen, die Veränderung der Muskelkraft (MRC-Summenwert) innerhalb von sechs Wochen, die Veränderung des mittleren Behinderungs-Scores nach 24 Wochen oder später, die Häufigkeit schwerwiegender unerwünschter Ereignisse und die Häufigkeit aller unerwünschten Ereignisse. Wir bewerteten die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz für unsere wichtigsten Endpunkte mit GRADE.

Hauptergebnisse: 

Wir haben neun RCTs mit 372 Teilnehmenden (235 männlich) aus Europa, Nordamerika, Südamerika und Israel einbezogen. Die statistische Heterogenität zwischen den Studienergebnissen war gering, und das Gesamtrisiko einer Verzerrung war bei allen Studien, die Daten zur Analyse beisteuerten, niedrig. In fünf Studien (235 Teilnehmende) wurden IVIG mit Placebo verglichen, in einer Studie (20 Teilnehmende) wurden IVIG mit einem Plasmaaustausch verglichen, in zwei Studien (72 Teilnehmende) wurden IVIG mit Prednisolon verglichen, und in einer Studie (45 Teilnehmende) wurden IVIG mit intravenösem Methylprednisolon (IVMP) verglichen. Wir haben eine neue Studie in diese Aktualisierung aufgenommen, die aber keine Daten zur Metaanalyse beigetragen hat.

IVIG im Vergleich zu Placebo erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer relevanten Verbesserung der Behinderung innerhalb von sechs Wochen nach Behandlungsbeginn (Risikoverhältnis (RR) 2,40; 95 % Konfidenzintervall (KI): 1,72 bis 3,36; Number needed to treat für ein zusätzliches erfolgreiches Behandlungsergebnis 4; 95 % KI: 3 bis 5; 5 Studien, 269 Teilnehmende; hohe Vertrauenswürdigkeit der Evidenz). Da jede Studie eine andere Skala für Behinderungen und eine andere Definition für eine relevante Verbesserung verwendete, konnten wir die klinische Relevanz der gepoolten Effektschätzer nicht bewerten. IVIG im Vergleich zu Placebo verbessern die auf der Rankin-Skala (0 bis 6, niedriger ist besser) gemessene Behinderung zwei bis sechs Wochen nach Behandlungsbeginn (mittlerer Unterschied (MD) -0,26 Punkte, 95% KI: -0,48 bis -0,05; 3 Studien, 90 Teilnehmende; hohe Vertrauenswürdigkeit der Evidenz). IVIG im Vergleich zu Placebo verbessern wahrscheinlich die auf der INCAT-Skala (1 bis 10, niedriger ist besser) gemessene Behinderung nach 24 Wochen (MD 0,80 Punkte, 95% KI: 0,23 bis 1,37; 1 Studie, 117 Teilnehmende; niedrige Vertrauenswürdigkeit der Evidenz). Bei der Häufigkeit schwerwiegender unerwünschter Ereignisse gibt es wahrscheinlich nur einen geringen oder gar keinen Unterschied zwischen IVIG und Placebo (RR 0,82, 95% KI: 0,36 bis 1,87; 3 Studien, 315 Teilnehmende; moderate Vertrauenswürdigkeit der Evidenz).

Die Studie, in der IVIG mit einem Plasmaaustausch verglichen wurde, berichtete keinen unserer wichtigsten Endpunkte.

IVIG haben im Vergleich zu Prednisolon hat wahrscheinlich nur geringe oder gar keine Wirkung auf die Wahrscheinlichkeit einer relevanten Verbesserung der Behinderung vier Wochen nach Behandlungsbeginn (RR 0,91, 95% KI: 0,50 bis 1,68; 1 Studie, 29 Teilnehmende; moderate Vertrauenswürdigkeit der Evidenz) und nur geringe oder gar keine Wirkung auf die Veränderung der mittleren Behinderung, die auf der Rankin-Skala gemessen wird (MD 0,21 Punkte, 95% KI: -0,19 bis 0,61; 1 Studie, 24 Teilnehmende; moderate Vertrauenswürdigkeit der Evidenz). Bei der Häufigkeit schwerwiegender unerwünschter Ereignisse gibt es wahrscheinlich nur einen geringen oder gar keinen Unterschied zwischen IVIG und Prednisolon (RR 0,45, 95% KI: 0,04 bis 4,69; 1 Cross-over-Studie, 32 Teilnehmende; moderate Vertrauenswürdigkeit der Evidenz).

IVIG im Vergleich zu IVMP erhöhen wahrscheinlich die Möglichkeit einer relevanten Verbesserung der Behinderung zwei Wochen nach Behandlungsbeginn (RR 1,46, 95% KI: 0,40 bis 5,38; 1 Studie, 45 Teilnehmende; moderate Vertrauenswürdigkeit der Evidenz). IVIG haben im Vergleich zu IVMP wahrscheinlich keine oder nur eine geringe Wirkung auf die Veränderung der auf der Rankin-Skala gemessenen Behinderung zwei Wochen nach Behandlungsbeginn (MD 0,24 Punkte, 95% KI: -0,15 bis 0,63; 1 Studie, 45 Teilnehmende; moderate Vertrauenswürdigkeit der Evidenz) oder auf die Veränderung der mit der Overall Neuropathy Limitation Scale (ONLS, 1 bis 12, niedriger ist besser) gemessenen mittleren Behinderung 24 Wochen nach Behandlungsbeginn (MD 0,03 Punkte, 95% KI: -0,91 bis 0,97; 1 Studie, 45 Teilnehmende; moderate Vertrauenswürdigkeit der Evidenz). Die Häufigkeit schwerwiegender unerwünschter Ereignisse kann bei IVIG im Vergleich zu IVMP höher sein (RR 4,40, 95% KI: 0,22 bis 86,78; 1 Studie, 45 Teilnehmende, moderate Vertrauenswürdigkeit der Evidenz).

Anmerkungen zur Übersetzung: 

T. Lempert, B. Schindler, freigegeben durch Cochrane Deutschland

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