Ist die Besteuerung von unverarbeitetem Zucker oder von Lebensmitteln mit zugesetztem Zucker wirksam in der Konsumreduktion und Prävention von Adipositas oder anderen unerwünschten Wirkungen auf gesundheitsrelevante Endpunkte?

Warum ist dieser Review wichtig?

Wie von der Weltgesundheitsorganisation dargelegt, stellt "Globesity" (die weltweite Zunahme von Übergewicht und Adipositas) eine bedeutsame globale Herausforderung dar. Eine zuckerreiche Ernährung, insbesondere in Verbindung mit körperlicher Inaktivität, kann Übergewicht und Adipositas sowie andere gesundheitliche Folgeschäden verursachen. Übergewicht und Adipositas verursachen direkte Kosten für die Gesundheitsversorgung, wie z.B. durch Prävention und Behandlung von Gesundheitsproblemen, die hiermit im Zusammenhang stehen. Es können zudem gesamtgesellschaftliche Kosten entstehen, wenn Menschen, die durch Übergewicht oder Adipositas erkrankt sind, nicht arbeiten können.

Wer könnte Interesse an diesem Review haben?

Dieser Review könnte für staatliche Gesundheitsbehörden, politische Entscheidungsträger, den Lebensmitteleinzelhandel und die Lebensmittelindustrie von Interesse sein. Der Review und zukünftige Aktualisierungen dieses Reviews könnten das politische Handeln und die Motivation einer Regierung zur Einführung einer Steuer auf unverarbeiteten Zucker und Lebensmittel beeinflussen. Der Review könnte zudem Anreiz für die Lebensmittelindustrie sein, ihre Produkte so in ihrer Zusammensetzung/Rezeptur zu verändern, dass sie geringere Mengen an zugesetztem Zucker enthalten.

Was wurde in diesem Review untersucht?

Wir wollten in Erfahrung bringen, ob durch die Besteuerung von unverarbeitetem Zucker und von Lebensmitteln mit zugesetztem Zucker deren Konsum reduziert wurde, sich die Energiezufuhr veränderte und Übergewicht und Adipositas zurückgingen. Wir wollten zudem wissen, ob sich durch die Besteuerung die Ernährung und die Ausgaben der Menschen veränderte und ob es Auswirkungen auf andere ernährungsbedingte Gesundheitsprobleme hatte.

Welche Studien wurden in diesen Review einbezogen?

Wir haben nach laufenden oder veröffentlichten Studien bis einschließlich Oktober 2019 gesucht. Von insgesamt 24.454 Treffer aus unserer Suche konnten wir eine unterbrochene Zeitreihenstudie (ITS) identifizieren, die unseren Kriterien für die Bewertung der Auswirkungen einer Steuer auf Lebensmittel mit zugesetztem Zucker (jedoch nicht auf unverarbeiteten Zucker) entsprach. Für die Studie wurden Daten aus einem ungarischen Survey zum Haushaltsbudget- und den Lebensbedingungen (dem Hungarian Household Budget and Living Conditions Survey) mit 40.210 befragten Haushalten verwendet. Die Studie umfasste einen Beobachtungszeitraum vor der Intervention (die Situation vor der Besteuerung), der von Januar 2008 bis August 2011 andauerte. Die "Hungarian public health product tax" wurde im September 2011 eingeführt. Das Follow-up (Messung der Auswirkungen der Besteuerung) betrug 16 Monate. Die Studie wurde durch das Scottish Institute for Research in Economics (SIRE) in Form eines Early Career Engagement Grants finanziert.

Was zeigt die Evidenz des Reviews?

Die eingeschlossene Studie lieferte sehr begrenzt Evidenz dafür, dass die Besteuerung von Lebensmitteln mit zugesetztem Zucker den dazugehörigen Verbrauch um 4% reduziert hat. Wir sind uns deshalb sehr unsicher hinsichtlich der Evidenz, da die Studie nicht die stärksten Methoden verwendet hat, andere Arten der Besteuerung neben der Besteuerung von Lebensmitteln mit zugesetztem Zucker untersucht hat und die Lebensmitteltypen möglicherweise nicht richtig klassifiziert wurden. Wir sind unsicher, ob die Besteuerung von Lebensmitteln mit zugesetztem Zucker eine Auswirkung auf die Reduktion des Konsums hat. In der eingeschlossenen Studie wurden die Auswirkungen der Besteuerung von unverarbeitetem Zucker nicht untersucht.

Welche Schritte sollten nun folgen?

Es sind weitere Forschungsarbeiten erforderlich, um die Wirksamkeit der Besteuerung von unverarbeitetem Zucker oder von Lebensmitteln mit zugesetztem Zucker zur Reduktion ihres Konsums und zur Prävention von Adipositas oder anderen negativen gesundheitlichen Folgen bewerten zu können. Studien sollten in den Ländern durchgeführt werden, die diese Steuern eingeführt haben. Hierbei sollten die Kosteneffektivität sowie die gesundheitlichen Vorteile der Besteuerung von unverarbeitetem Zucker oder Lebensmitteln mit zugesetztem Zucker als ein Ansatz von Public Health zur Vermeidung von Übergewicht, Adipositas oder anderen nachteiligen gesundheitlichen Folgen untersucht werden. Länder, die diese Steuern eingeführt haben, sind: Bermuda, Dominica, Ungarn, Indien, Norwegen und St. Vincent und die Grenadinen.

Schlussfolgerungen der Autoren: 

Die zur Fragestellung des Reviews vorhandene Evidenz kann als sehr begrenzt angesehen werden und die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz ist sehr gering. Trotz der berichteten Konsumreduktion von besteuerten Lebensmitteln mit zugesetztem Zucker sind wir unsicher, ob die Besteuerung von unverarbeitetem Zucker oder von Lebensmitteln mit zugesetztem Zucker tatsächlich eine Wirkung auf die Konsumreduktion und die Prävention von Adipositas oder andere unerwünschte Wirkungen auf gesundheitsrelevante Endpunkte hat. Es sind weitere, sorgfältig angelegte Studien erforderlich, um konkrete Schlussfolgerungen über die Wirksamkeit der Besteuerung von unverarbeitetem Zucker oder von Lebensmitteln mit zugesetztem Zucker, hinsichtlich deren Konsumreduktion und im Hinblick auf die Prävention von Adipositas oder andere unerwünschte Wirkungen auf gesundheitsrelevante Endpunkte, zu ziehen.

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Hintergrund: 

Die weltweite Prävalenz von Übergewicht und Adipositas ist alarmierend. Um diesem Public Health Problem zu begegnen, sind präventive Public Health- sowie politische Maßnahmen dringend erforderlich. In einigen Ländern wurden in der Vergangenheit Lebensmittelsteuern eingeführt, von denen manche jedoch bereits wieder abgeschafft wurden. Einige Länder wie Norwegen, Ungarn, Dänemark, Bermuda, Dominica, St. Vincent und die Grenadinen, sowie das Navajo Nation Reservat (USA) haben spezielle Steuern auf unverarbeiteten Zucker und/oder Lebensmittel mit zugesetztem Zucker eingeführt. Diese Steuern auf unverarbeiteten Zucker und Lebensmittel mit zugesetztem Zucker sind fiskalpolitische Interventionen, die eingeführt wurden, um deren Konsum zu verringern und damit wiederum die negativen gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen zu reduzieren.

Zielsetzungen: 

Ziel dieses Reviews war es, die Wirksamkeit einer Besteuerung von unverarbeitetem Zucker oder von Lebensmitteln mit zugesetztem Zucker in der Allgemeinbevölkerung hinsichtlich folgender Endpunkte zu beurteilen: Konsum von unverarbeitetem Zucker oder mit Zucker versetzten Lebensmitteln, Prävalenz und Inzidenz von Übergewicht und Adipositas sowie Prävalenz und Inzidenz anderer ernährungsbedingter Gesundheitsfolgen.

Suchstrategie: 

Am 12. September 2019 durchsuchten wir CENTRAL, die Cochrane Database of Systematic Reviews, MEDLINE, Embase und 15 weitere Datenbanken und Studienregister. Wir durchsuchten händisch die Referenzlisten aller eingeschlossenen Studien. Wir durchsuchten Websites internationaler Organisationen und Institutionen und nahmen Kontakt mit den Mitgliedern des Beratungsgremiums dieses Reviews auf, um geplante, laufende oder unveröffentlichte Studien zu identifizieren.

Auswahlkriterien: 

Wir schlossen Studien mit den folgenden Populationen ein: Kinder (0 bis 17 Jahre) und Erwachsene (18 Jahre oder älter) aller Länder und Settings. Ausgeschlossen wurden Studien mit spezifischen Subgruppen, wie z.B. Menschen mit einer Krankheit, die Übergewicht und Adipositas als Nebenwirkungen aufweisen. Der Review schloss Studien ein, die Steuern auf Verkaufspreise oder deren künstlichen Anhebung Verkaufspreise von unverarbeitetem Zucker oder Lebensmittel mit zugesetztem Zucker (z.B. Süßigkeiten, Speiseeis, Süß- und Backwaren) oder beide Formen als Intervention beinhalten. Dies geschah unabhängig vom Steuersatz oder der Preiserhöhung. In Übereinstimmung mit den definierten Kriterien der Cochrane Effective Practice and Organisation of Care (EPOC) haben wir randomisierte kontrollierte Studien (RCTs), cluster-randomisierte kontrollierte Studien (cRCTs), nicht-randomisierte kontrollierte Studien (nRCTs), kontrollierte Vorher-Nachher-Studien (CBA) und Studien mit unterbrochenen Zeitreihen (ITS) eingeschlossen. Wir schlossen kontrollierte Studien mit mehr als einem Interventions- oder Kontrollstandort und ITS-Studien mit einem klar definierten Interventionszeitraum und mindestens drei Datenpunkten vor sowie drei Datenpunkte nach dem Interventionsbeginn ein. Unsere primären Endpunkte waren der Konsum von unverarbeitetem Zucker oder Lebensmitteln mit zugesetztem Zucker, Energiezufuhr, Übergewicht und Adipositas. Unsere sekundären Endpunkte waren Substitution und Ernährung, finanzielle Ausgaben, Nachfrage und andere gesundheitsrelevante Endpunkte.

Datensammlung und ‐analyse: 

Zwei Review-Autoren überprüften unabhängig voneinander alle in Frage kommenden Einträge unterschiedlicher Treffer auf einen möglichen Einschluss, bewerteten das Risiko für Bias und führten die Datenextraktion durch. Zwei Review-Autoren haben unabhängig voneinander die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz, mit Hilfe des GRADE-Ansatzes bewertet.

Hauptergebnisse: 

Unsere Suche ergab 24.454 Treffer. Nach der De-Duplizierung der Einträge verblieben 18.767 Einträge für das Titel- und Abstract-Screening. Von 11 potentiell relevanten Studien schlossen wir eine ITS-Studie mit 40.210 Beobachtungen auf Haushaltsebene ein. Die Daten entstammten hierbei einem ungarischen Survey zum Haushaltsbudget und den Lebensbedingungen (Hungarian Household Budget and Living Conditions Survey). Der Studienzeitraum vor Beginn der Intervention war von Januar 2008 bis August 2011. Die Intervention wurde im September 2011 implementiert und bis Dezember 2012 (16 Monate) nachverfolgt. Bei der Intervention handelte es sich um eine Steuer - die so genannte "Hungarian public health product tax" Dabei handelt es sich um eine Steuer auf Lebensmittel mit zugesetztem Zucker, einschließlich ausgewählter Lebensmittel, die einen bestimmten Zuckergrenzwert überschreiten. Die Intervention beinhaltet folgende Kointerventionen: die Besteuerung von zuckergesüßten Getränken (sugar sweetned beverages, SSBs) und Lebensmitteln mit hohem Salz- oder Koffeingehalt.

Die Studie liefert Evidenz hinsichtlich der Wirkung einer Besteuerung von Lebensmitteln, die einen bestimmten Zuckergrenzwert überschreiten, bezogen auf den Konsum dieser Lebensmittel. Nach Einführung der "Hungarian public health product tax" sank der durchschnittliche Konsum von besteuerten Lebensmitteln mit zugesetztem Zucker (Einheiten gemessen in kg) um 4,0% (standardisierte Mittelwertdifferenz (SMD) -0,040, 95% Konfidenzintervall (KI) -0,07 bis -0,01; sehr niedrige Vertrauenswürdigkeit der Evidenz).

Die Studie wies ein geringes Risiko für Performance Bias (keine oder unvollständige Verblindung von Personal und Studienteilnehmer), Detection Bias (keine oder unvollständige Verblindung bei Endpunktbeurteilung) und Reporting Bias (Verzerrung durch selektives Berichten) auf. Gleiches galt für die nachvollziehbare Beschreibung des Interventionszeitpunkts und mögliche Verzerrungen durch Auswirkungen der Intervention auf die Datenerhebung. Die Studie wies ein unklares Risiko für Bias in Bezug auf mögliche Verzerrung durch Unterschiede in Studienteilnahme bzw. -abbruch auf (Attrition Bias) sowie ein hohes Risiko in Bezug auf andere Quellen für Bias und die Unabhängigkeit der Intervention auf. Wir bewerteten die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz für die primären und sekundären Endpunkte als sehr niedrig.

Die "Hungarian public health product tax" beinhaltete eine Steuer auf Lebensmittel mit zugesetztem Zucker, nicht aber eine Steuer auf unverarbeiteten Zucker. Wir fanden keine einschlussfähigen Studien zur Besteuerung von unverarbeitetem Zucker. Keine Studie berichtete Ergebnisse zu den folgenden primären Endpunkten: Konsum von unverarbeitetem Zucker, Energiezufuhr, Übergewicht und Adipositas. Keine Studie berichtete Ergebnisse zu den folgenden sekundären Endpunkten: Substitution und Ernährung, Nachfrage und andere gesundheitsrelevante Endpunkte. Keine Studie untersuchte mögliche subgruppenspezifische Effekte der Intervention innerhalb der Bevölkerung.

Wir konnten keine Meta-Analysen durchführen oder Studienergebnisse anderweitig zusammenfassen.

Anmerkungen zur Übersetzung: 

T. Heise, M. Pfinder, freigegeben durch Cochrane Deutschland.

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