Kernaussagen
- Ältere Menschen, die mehrere Medikamente mit anticholinerger Wirkung einnehmen, haben möglicherweise ein höheres Risiko, dass sich ihre kognitiven Fähigkeiten verschlechtern.
- Es fehlt hochwertige Evidenz dafür, ob die Reduzierung der Verschreibung von anticholinergen Medikamenten die Kognition erhalten oder verbessern kann. Die derzeit vorhandene Evidenz ist sehr unsicher und deckt nur kurze Zeiträume ab.
- Es werden größere Studien benötigt, um die langfristigen Auswirkungen einer Reduzierung der anticholinergen Belastung zu untersuchen.
Was sind anticholinerge Medikamente?
Medikamente können die Wirkung eines chemischen Signalübertragungssystems im Körper, das als cholinerges System bezeichnet wird, blockieren. Ein Medikament, das dies tut, hat anticholinerge Wirkungen und wird daher als anticholinerges Medikament bezeichnet. Manchmal ist die anticholinerge Wirkung wichtig für die Wirkung des Arzneimittels, manchmal kommen aber auch unerwünschte Nebenwirkungen vor. Viele gängige Medikamente haben anticholinerge Wirkungen, die sich summieren können. Die gesamte anticholinerge Wirkung aller Medikamente, die jemand einnimmt, wird als anticholinerge Belastung bezeichnet. Eine ältere Person, die ein stark anticholinerg wirksames Arzneimittel oder mehrere leicht anticholinerg wirksame Arzneimittel einnimmt, kann eine erhebliche anticholinerge Belastung haben.
Das cholinerge System im Gehirn spielt eine wichtige Rolle bei der Kognition (Denken und Erinnern). Es gibt Bedenken, dass eine hohe anticholinerge Belastung möglicherweise ungewollt kognitive Probleme verursachen oder verschlimmern kann, die Entwicklung einer Demenz beschleunigt oder die Symptome von Menschen, die bereits an Demenz leiden, verschlimmert. Leitlinien empfehlen, dass Ärztinnen und Ärzte die Menge der verschriebenen anticholinergen Medikamente bei älteren Menschen überprüfen sollten.
Was wollten wir herausfinden?
In diesem Review wollten wir Interventionen untersuchen, die darauf abzielen, die Zahl der anticholinergen Medikamente, die älteren Menschen verschrieben werden, zu reduzieren. Wir wollten herausfinden, ob diese Maßnahmen bei älteren Menschen besser als die übliche Versorgung sind in Bezug auf Verbesserung der Kognition und Zahl der Demenzdiagnosen. Außerdem wollten wir herausfinden, ob die Verringerung der anticholinergen Gesamtbelastung irgendwelche negativen Auswirkungen hat.
Wie gingen wir vor?
Wir suchten nach Studien, in denen Maßnahmen zur Verringerung der anticholinergen Belastung im Vergleich zur üblichen Versorgung älterer Menschen untersucht wurden. Um einen fairen Vergleich zu ermöglichen, mussten die Teilnehmenden nach dem Zufallsprinzip der Interventionsgruppe oder der Gruppe mit der üblichen Versorgung zugewiesen worden sein. Wir haben sowohl ältere Menschen ohne kognitive Beeinträchtigungen als auch Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, einschließlich Demenz, einbezogen. Wir verglichen und fassten die Ergebnisse der Studien zusammen und bewerteten unser Vertrauen in die Ergebnisse, basierend auf Faktoren wie Studienmethoden und Größe der Studien.
Was fanden wir?
Wir fanden drei relevante Studien, an denen insgesamt 299 ältere Erwachsene teilnahmen. Alle drei Studien umfassten sowohl Menschen mit als auch ohne kognitive Probleme. Alle Studien umfassten nur kurze Zeiträume, bei denen die kognitiven Fähigkeiten ein bis drei Monate nach der Intervention gemessen wurden. Nur in zwei Studien gelang es, die anticholinerge Gesamtbelastung der Interventionsgruppe zu verringern. In einer dieser Studien schnitten die Teilnehmenden der Interventionsgruppe bei kognitiven Tests jedoch nicht besser ab als die Teilnehmenden der üblichen Versorgung. In der anderen Studie wurde festgestellt, dass die Teilnehmenden der Interventionsgruppe nur bei einem von mehreren kognitiven Tests besser abschnitten. In keiner Studie wurde festgestellt, dass Maßnahmen zur Verringerung der anticholinergen Belastung zu anderen Verbesserungen im Vergleich zur üblichen Versorgung führten. In keiner Studie wurden Sicherheitsaspekte untersucht.
Was schränkt die Evidenz ein?
Unser Vertrauen in die Ergebnisse ist insgesamt sehr niedrig. Die Studien umfassten nur eine geringe Anzahl von Teilnehmenden und betrachteten Personen mit und ohne bestehende kognitive Beeinträchtigungen gemeinsam. Zudem waren sie beim Verringern der anticholinergen Belastung unterschiedlich erfolgreich. Anhand der vorliegenden Evidenz können wir nicht sagen, ob Maßnahmen zur Verringerung der anticholinergen Belastung wirksam und sicher sind, um die Kognition älterer Menschen zu erhalten oder zu verbessern.
Wie aktuell ist die vorliegende Evidenz?
Es wurden Studien, die bis zum 1. November 2022 veröffentlicht wurden, berücksichtigt.
Es liegt keine ausreichende Evidenz vor, um Schlussfolgerungen über die Wirkungen von Maßnahmen zur Verringerung der anticholinergen Last auf kognitive Endpunkte bei älteren Erwachsenen mit oder ohne vorherige kognitive Beeinträchtigung zu ziehen. Die Evidenz aus RCTs ist von sehr niedriger Vertrauenswürdigkeit, sodass die Hypothese, dass eine aktive Reduzierung oder Beendigung der Verschreibung von Medikamenten mit anticholinerger Wirkung kognitive Endpunkte bei älteren Menschen verbessern kann, weder unterstützt noch widerlegt werden kann. Es gibt keine Evidenz aus RCTs, dass Maßnahmen zur Reduzierung der anticholinergen Last andere klinische Endpunkte wie Mortalität, Lebensqualität, klinischer Gesamteindruck, körperliche Funktion, Institutionalisierung, Stürze, kardiovaskuläre Erkrankungen oder neuroverhaltensbezogene Ergebnisse verbessern. Größere RCTs, die langfristige Auswirkungen untersuchen, sind erforderlich. Künftige RCTs sollten auch den potenziellen Nutzen von Maßnahmen zur Reduzierung von Anticholinergika in kognitiv gesunden und kognitiv beeinträchtigten Personengruppen separat untersuchen.
Anticholinergika sind Medikamente, die die Wirkung von Acetylcholin im zentralen oder peripheren Nervensystem blockieren. Medikamente mit anticholinergen Eigenschaften werden häufig älteren Erwachsenen verschrieben. Die kumulative anticholinerge Wirkung aller Medikamente, die eine Person einnimmt, wird als anticholinerge Last bezeichnet. Eine hohe anticholinerge Last kann bei Menschen, die ansonsten kognitiv gesund sind, zu kognitiven Beeinträchtigungen führen oder bei Menschen mit bereits bestehenden kognitiven Problemen einen weiteren kognitiven Rückgang verursachen. Die Verringerung der anticholinergen Last durch ein schrittweises Absetzen kann dazu beitragen, das Auftreten kognitiver Beeinträchtigungen zu verhindern oder die Geschwindigkeit des kognitiven Abbaus zu verlangsamen.
Primäres Ziel
- Bewertung der Wirksamkeit und Sicherheit von Interventionen zur Reduzierung anticholinerger Medikamente zur Verbesserung von kognitiven Endpunkten bei kognitiv gesunden älteren Erwachsenen und älteren Erwachsenen mit vorbestehenden kognitiven Problemen.
Sekundäre Zielsetzungen
- Vergleich der Wirksamkeit verschiedener Arten von Maßnahmen zur Verringerung der anticholinergen Belastung (z. B. durch Apotheker*innen oder Allgemeinmediziner*innen, durch Aufklärung oder Prüfung und Feedback).
- Ermittlung der optimalen Dauer von Maßnahmen zur Verringerung von Anticholinergika, deren Nachhaltigkeit und daraus gewonnene Erkenntnisse für die Ausweitung der Maßnahmen
- Vergleich der Ergebnisse gemäß verschiedener anticholinerger Skalen, die in Interventionsstudien zur Medikamentenreduzierung verwendet werden
- Bewertung der Wirksamkeit von Maßnahmen zur Verringerung der anticholinergen Medikation im Hinblick auf die Verbesserung anderer klinischer Endpunkte, einschließlich Mortalität, Lebensqualität, klinischer Gesamteindruck, körperliche Funktion, Institutionalisierung, Stürze, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und neuroverhaltensbezogene Ergebnisse.
Wir durchsuchten CENTRAL am 22. Dezember 2022 sowie MEDLINE, Embase und drei weitere Datenbanken von Beginn ihrer Einträge bis zum 1. November 2022.
Wir schlossen randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) zu Interventionen ein, die darauf abzielten, die anticholinerge Last älterer Menschen zu verringern, und die kognitive Endpunkte untersuchten.
Zwei Autor*innen bewerteten unabhängig voneinander die Studien für die Aufnahme in den Review, extrahierten die Daten und bewerteten das Risiko einer Verzerrung (Bias) der eingeschlossenen Studien. Die Daten waren für eine Metaanalyse nicht geeignet, sodass wir sie narrativ zusammengefasst haben. Wir haben die GRADE-Methode angewandt, um die Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse zu bewerten.
Wir schlossen drei Studien mit insgesamt 299 Teilnehmenden ein. Alle drei Studien wurden an einer kognitiv gemischten Population durchgeführt (einige kognitiv gesunde Teilnehmende, einige Teilnehmende mit Demenz). Die Endpunkte wurden nach einem bis drei Monaten bewertet. In einer Studie wurde über eine signifikante Verbesserung der Leistung beim Digit Symbol Substitution Test (DSST) in der Interventionsgruppe berichtet (Behandlungsdifferenz 0,70, 95% Konfidenzintervall (KI) 0,11 bis 1,30), obwohl es keinen Unterschied zwischen den Gruppen im Anteil der Teilnehmenden mit reduzierter anticholinerger Last gab. In zwei Studien konnte die anticholinerge Last in der Interventionsgruppe reduziert werden. In einer dieser Studien wurde kein signifikanter Unterschied zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe hinsichtlich der Wirkung auf die kognitive Leistung festgestellt, gemessen mittels Consortium to Establish a Registry for Alzheimer's Disease (CERAD) immediate recall (mittlere Differenz zwischen den Gruppen 0.54, 95% KI -0,91 bis 2,05), CERAD delayed recall (mittlere Differenz zwischen den Gruppen -0,23, 95% KI-0,85 bis 0,38), CERAD recognition (mittlere Differenz zwischen den Gruppen 0,77, 95% KI -0,39 bis 1,94) und Mini-Mental State Examination (mittlere Differenz zwischen den Gruppen 0,39, 95% KI -0,96 bis 1,75). Die andere Studie berichtete über eine signifikante Korrelation zwischen der anticholinergen Last und einem Test des Arbeitsgedächtnisses nach der Intervention (was darauf hindeutet, dass die Verringerung der anticholinegen Last die Leistung verbesserte), berichtete jedoch über keine Wirkung auf mehrere andere kognitive Messungen. Nach GRADE wurden die Ergebnisse mit sehr niedriger Vertrauenswürdigkeit bewertet.
Bei keinem anderen von uns untersuchten klinischen Endpunkt gab es Unterschiede zwischen den Gruppen. Es war nicht möglich, Unterschiede je nach Art der Reduktionsmaßnahme oder Art der anticholinergen Skala zu untersuchen, die Nachhaltigkeit der Maßnahmen zu messen oder Erkenntnisse für die Ausweitung der Maßnahmen zu gewinnen. In keiner Studie wurden Endpunkte im Hinblick auf die Sicherheit untersucht.
B. Schindler, T. Brugger, freigegeben durch Cochrane Deutschland