Reviefrage: Reviewfrage: wir begutachteten die Evidenz (den wissenschaftlichen Beleg) zur Wirkung von Dehnung bei Menschen mit Gelenkdeformitäten (Gelenkfehlstellungen bzw. -einschränkungen durch Verkürzung von Muskeln, Bändern und Sehnen) oder der Neigung dazu, solche zu entwickeln.
Hintergrund: Wir wollten wissen, ob Dehnungsanwendungen bei Menschen mit neurologischen und nicht-neurologischen Erkrankungen oder Verletzungen wirksam ist zur Behandlung und Vorbeugung von Gelenkdeformitäten (auch als Kontrakturen bezeichnet). Unter den in diesem Review enthaltenen Erkrankungen und Verletzungen waren Knochenbrüche, Schlaganfälle, Hirnverletzungen, entzündliche Gelenkerkrankungen und Verbrennungen.
Dehnung kann durch Schienen und Lagerungsprogramme oder durch Gipsverbände, die in regelmäßigen Abständen angepasst werden (serielle Gipsverbände), angewandt werden. Alternativ kann Dehnung selbst ausgeführt oder von einem Therapeuten manuell angewandt werden.
Studienmerkmale: dieser Cochrane Review ist auf dem Stand von November 2015. Er beinhaltet die Ergebnisse von 49 randomisierten kontrollierten Studien (Studien, in denen die Teilnehmer verschiedenen Behandlungsgruppen zufällig zugeordnet werden) mit 2135 Teilnehmern. Die Teilnehmer hatten eine Vielzahl unterschiedlicher neurologischer und nicht-neurologischer Erkrankungen und Verletzungen, darunter Schlaganfälle, erworbene Hirn- und Rückenmarksverletzungen, entzündliche Gelenkerkrankungen, Handgelenksbrüche und Verbrennungen.
Die Studien verglichen Dehnung mit keiner Dehnung, häufig im Rahmen der Regelversorgung für die jeweilige Erkrankung bzw. Verletzung oder in Kombination mit einer anderen Maßnahme, wie beispielsweise Übungen oder Botox-Spritzen bei Spastik.
Die Dehnung wurde in unterschiedlicher Weise ausgeführt: durch passive Dehnung (von den Teilnehmern selbst, vom Therapeuten oder gerätegestützt), Lagerung, Schienung und serielle Gipsverbände.
Die Dehnungsdosierung war sehr unterschiedlich und reichte von fünf Minuten bis zu 24 Stunden am Tag (Median 420, IQR 38 bis 600 Minuten) über einen Zeitraum von zwischen zwei Tagen und sieben Monaten (Median 35 Tage, IQR 23 bis 84 Tage). Die Gesamtdauer, über die Dehnung angewandt wurde, reichte von 23 Minuten bis zu 1456 Stunden (Median 168 Stunden, IQR 24 bis 672 Stunden).
Die interessierenden Endpunkte (Ergebniskriterien) waren Gelenkbeweglichkeit, Spastik, Schmerzen, Bewegungsfähigkeit, Fähigkeit zur Teilhabe am täglichen Leben, Lebensqualität sowie unerwünschte Ereignisse. Die kurzfristigen (unter einer Woche) und langfristigen (über einer Woche) Wirkungen wurden getrennt voneinander ermittelt.
Finanzierungsquellen der Studien: Keine der Studien erhielt eine finanzielle Förderung von einem Medikamentenhersteller bzw. einer Einrichtung mit einem kommerziellen Interesse an den Studienergebnissen.
Hauptergebnisse: wir fanden die folgenden kurzfristigen Wirkungen bis zu einer Woche nach der letzten Dehnungsmaßnahme in den Studien, die Dehnung mit keiner Dehnung verglichen:
Gelenkbeweglichkeit (höhere Werte bedeuten ein besseres Ergebnis)
Neurologische Erkrankungen und Verletzungen: Dehnung verbessert die Gelenkbeweglichkeit um 1% (Verbesserung um 0% bis 2%) oder 2° (0° bis 3°).
Nicht-neurologische Erkrankungen und Verletzungen: Dehnung verbessert die Gelenkbeweglichkeit um 1% (Verbesserung von 0% bis 3%).
Lebensqualität (höhere Werte bedeuten ein besseres Ergebnis)
Neurologische Erkrankungen und Verletzungen: keine Studien
Nicht-neurologische Erkrankungen und Verletzungen: Dehnung verbessert die Lebensqualität um 1% (Verbesserung um 0% bis 3%).
Schmerzen (niedrigere Werte bedeuten ein besseres Ergebnis)
Neurologische Erkrankungen und Verletzungen: Dehnung verstärkt Schmerzen um 2% (Verschlechterung um 1% bis 6%).
Nicht-neurologische Erkrankungen und Verletzungen: Stretching verringert Schmerzen um 1% (Verbesserung um 3% bis Verschlechterung um 1%).
Aktivitätseinschränkungen (höhere Werte bedeuten ein besseres Ergebnis)
Neurologische Erkrankungen und Verletzungen: Dehnung verbessert die Bewegungsfähigkeit um 1% (Verbesserung um 0% bis 2%).
Nicht-neurologische Erkrankungen und Verletzungen: Dehnung verbessert die Bewegungsfähigkeit um 1% (Verschlechterung um 2% bis Verbesserung um 4%).
Teilhabe (höhere Werte bedeuten ein besseres Ergebnis)
Neurologische Erkrankungen und Verletzungen: keine Studien
Nicht-neurologische Erkrankungen und Verletzungen: Dehnung verringert die Teilhabe am täglichen Leben um 12% (Verschlechterung um 31% bis Verbesserung um 6%).
Unerwünschte Ereignisse
Neurologische und nicht-neurologische Erkrankungen und Verletzungen: es wurden 49 unerwünschte Ereignisse angegeben, darunter Schädigungen der Haut, Schmerzen, Taubheitsgefühle, Venenthrombosen, Wundinfektionen, Blutergüsse, Einschränkungen der Beugefähigkeit und Schwellungen. Wir konnten das Risiko solcher Ereignisse durch Dehnung nicht berechnen, weil unerwünschte Ereignisse nicht in allen Studien berichtet oder für die Behandlungs- und Kontrollgruppen getrennt angegeben wurden.
Qualität der Evidenz: Es gab Evidenz hoher Qualität dafür, dass Dehnung bei Menschen mit neurologischen oder nicht-neurologischen Erkrankungen und Verletzungen keine klinisch bedeutsamen kurzfristigen Wirkungen auf die Gelenkbeweglichkeit hat. Es gab Evidenz hoher Qualität dafür, dass Dehnung bei Menschen mit nicht-neurologischen Erkrankungen und Verletzungen keine klinisch bedeutsamen kurzfristigen Wirkungen auf die Lebensqualität hat.
Schlussfolgerung: Dehnung ist nicht wirksam zur Behandlung und Vorbeugung von Kontrakturen und hat keine kurzfristigen Wirkungen auf die Lebensqualität und Schmerzen bei Menschen mit nicht-neurologischen Erkrankungen und Verletzungen. Die kurz- und langfristigen Wirkungen von Dehnung auf andere Endpunkte bei Menschen mit neurologischen und nicht-neurologischen Erkrankungen und Verletzungen sind nicht bekannt.
C. Braun, T. Bossmann, Koordination durch Cochrane Schweiz