Sind Technologien zur digitalen Kontaktnachverfolgung während Ausbrüchen von Infektionskrankheiten wirksam?

Warum ist diese Frage wichtig?

Die globale COVID-19 Pandemie unterstreicht die Bedeutung einer genauen und zeitnahen Nachverfolgung von Kontaktpersonen. Die Nachverfolgung von Kontaktpersonen zeigt Personen, dass sie möglicherweise in der Nähe einer Person waren, die an einer Infektionskrankheit erkrankt ist oder Symptome einer Infektionskrankheit aufweist. Dies ermöglicht es ihnen, sich selbst zu isolieren und dabei zu helfen, die Ausbreitung der Infektion zu stoppen. Klassischerweise beginnt die Kontaktnachverfolgung mit der Benachrichtigung, dass jemand eine Infektionskrankheit hat. Die Person wird gebeten, sich an ihre Kontakte der letzten zwei bis drei Tage vor Ausbruch der Symptome zu erinnern. Dies ist zeitaufwendig und ergibt möglicherweise nicht immer ein vollständiges Bild aller Kontakte, sodass digitale Hilfsmittel bei der Nachverfolgung helfen könnten.

Bei der digitalen Kontaktnachverfolgung werden Technologien dazu eingesetzt, Kontakte zu ermitteln und zu verfolgen. Einzelpersonen laden eine App auf ihre Smartphones herunter und zeichnen Informationen zu Standorten und Symptomen auf, oder ihr Gerät verwendet Technologien zur Standortbestimmung, wie Bluetooth oder GPS (Global Positioning System). Ist der Nutzer infiziert, identifiziert die Technologie enge Kontakte und/oder Sekundärinfektionen (Personen, an die sie die Infektion weitergegeben haben) und informiert die Personen, die in der Nähe waren. Diese Technologie identifiziert, wo die Infektion weitergegeben wurde und ihre Dauer (den Kontext).

Allerdings könnten Probleme auftreten, wenn der Zugang zu Technologie erschwert ist - beispielswiese in einkommensschwachen Settings oder bei älteren Menschen. Außerdem sehen einige Menschen dies als einen Eingriff in ihre Privatsphäre und sind misstrauisch, wie ihre Daten verwendet werden.

Wir wollten wissen, ob die digitale Kontaktnachverfolgung verglichen mit der manuellen Kontaktnachverfolgung wirksam darin ist, die Ausbreitung einer Infektion zu verringern, gemessen am Auftreten von Sekundärinfektionen, der Identifikation enger Kontakte, der Nachverfolgung einer vollständigen Kontaktliste und der Identifikation des Infektions-Kontextes.

Wie sind wir vorgegangen?

Wir durchsuchten medizinische Datenbanken nach Studien, in denen die digitale Kontaktnachverfolgung untersucht wurde. Wir bevorzugten Studien, die während Ausbrüchen einer Infektionskrankheit stattfanden und echte Menschen in Echtzeit untersuchten. Allerdings schlossen wir Studien unabhängig von ihrem Setting und Design ein.

Um unsere Fragestellung schnell beantworten zu können, verkürzten wir einige Schritte des Prozesses für einen Cochrane-Review. Wir haben aber Vertrauen in unsere Schlussfolgerungen.

Unsere Ergebnisse

Wir fanden 12 relevante Studien. Sechs untersuchten die Wirksamkeit einer digitalen Kontaktnachverfolgung bei bestimmten Personengruppen (Kohorten): drei während eines Ausbruchs (Ebola in Sierra Leone; Tuberkulose in Botsuana; und Keuchhusten (Pertussis) in den USA); und drei stellten einen Ausbruch in Schulen nach, um Systeme zur Identifikation von engen Kontakten der Teilnehmer zu untersuchen. Die verbleibenden sechs waren Modellierungsstudien, in denen eine digitale Kontaktnachverfolgung simuliert wurde.

Hauptergebnisse

Die digitale Kontaktnachverfolgung mit Selbstisolation verringert wahrscheinlich die Anzahl an Sekundärinfektionen, allerdings nicht so stark wie die manuelle Kontaktnachverfolgung mit Selbstisolation (2 Modellierungsstudien).

Durch die digitale Kontaktnachverfolgung wurden mehr enge Kontakte bei zwei Ausbrüchen identifiziert als bei der manuellen Nachverfolgung (2 Studien in den USA und Sierra Leone). In Settings ohne Ausbruch können digitale Geräte mehr enge Kontakte identifizieren als selbstverfasste Aufzeichnungen oder Umfragen.

Eine App könnte die bis zur Fertigstellung einer vollständigen Liste enger Kontakte benötigte Zeit verringern (1 Studie). Digitale Systeme ließen sich schneller einsetzen als Papiersysteme, um neue Kontakte aufzuzeichnen und bekannte Kontakte zu beobachten, und waren wahrscheinlich weniger anfällig für Datenverlust.

Probleme mit dem Systemzugang (2 Studien) umfassten eine lückenhafte Netzabdeckung, fehlende Daten, technische Probleme und einen höheren Bedarf an Personalschulungen. Die persönlichen Ausgaben von Kontaktnachverfolgern stiegen (1 Studie) durch Reisen und das Wiederaufladen von Telefonbatterien. Alle Geräte schienen die diagnostizierten Nutzer vor Kontakten, Hackern (engl. „snoopers“) und Behörden zu schützen, allerdings waren die Nutzer einer App Mitarbeiter von Gesundheitsbehörden. Die Studien dokumentierten gestohlene Hardware (gebrauchte Mobiltelefone), berichteten, dass Papierformulare „oft verloren gingen“, und dass digitale Daten passwortgeschützt (2 Studien) und verschlüsselt (1 Studie) waren.

Wir fanden keine Evidenz zu kontextbezogenen Informationen und zur Akzeptanz.

Was dies bedeutet

Es ist unwahrscheinlich, dass digitale Technologien die einzige Methode zur Kontaktnachverfolgung während eines Ausbruchs sein würden; sie würden wahrscheinlich zusammen mit manuellen Methoden eingesetzt werden. Leider ist die Technologie in realen Ausbrüchen größtenteils unerprobt und keine unserer eingeschlossenen Studien untersuchte eine digitale plus eine manuelle Kontaktnachverfolgung im Vergleich zu einer rein digitalen Kontaktnachverfolgung. Die in unseren Review eingeschlossenen Studien untersuchten verschiedene Technologien und verwendeten unterschiedliche Methoden, sodass wir bezüglich der von ihnen erbrachten Evidenz unsicher sind.

Regierungen, die eine digitale Kontaktnachverfolgung einsetzen, sollten sicherstellen, dass gefährdete Bevölkerungsgruppen nicht benachteiligt werden und datenschutzrechtliche Bedenken berücksichtigt werden.

Dieser Review ist auf dem Stand von Mai 2020.

Schlussfolgerungen der Autoren: 

Die Wirksamkeit digitaler Lösungen ist weitgehend ungesichert, da es nur sehr wenige veröffentlichte Daten von Ausbrüchen in der realen Welt gibt. Modellierungsstudien zeigen, bei niedriger Vertrauenswürdigkeit der Evidenz, dass die digitale Kontaktnachverfolgung zusammen mit anderen öffentlichen Gesundheitsmaßnahmen wie der Selbstisolation zu einer Reduzierung von Sekundärfällen führen kann. Kohortenstudien liefern, bei sehr niedriger Vertrauenswürdigkeit der Evidenz, Evidenz dafür, dass die digitale Kontaktnachverfolgung zu zuverlässigeren Kontaktzahlen führen und die Zeit bis zum Abschluss der Kontaktnachverfolgung verkürzen kann. Digitale Lösungen können Auswirkungen auf die soziale Gerechtigkeit von Risikopopulationen mit unzureichendem Internetzugang und unzureichendem Zugang zu digitalen Technologien haben.

Es ist eine stärkere Primärforschung zur Wirksamkeit von Kontaktnachverfolgungs-Technologien erforderlich, einschließlich Forschung zur koordinierten Verwendung digitaler Konzepte in Verbindung mit manuellen Systemen, da es unwahrscheinlich ist, dass digitale Lösungsansätze in der realen Welt allein eingesetzt werden. Künftige Studien sollten den Zugang zu und die Akzeptanz von digitalen Lösungsansätzen und die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die soziale Gerechtigkeit berücksichtigen. Studien sollten auch die Akzeptanz und Nutzung zu einer vorrangigen Forschungsfrage machen, da Datenschutzbedenken die Nutzung und Wirksamkeit dieser Technologien verhindern können.

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Hintergrund: 

Die Eindämmung der Übertragung von SARS-CoV-2 (engl. „severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2“) ist weltweit von hoher Dringlichkeit. Eine Kontaktnachverfolgung ermöglicht die Identifizierung von Menschen, die vor kurzem Kontakt mit einer infizierten Person hatten, um sie zu isolieren und weitere Übertragungen zu vermindern. Digitale Technologien könnten dazu eingesetzt werden, manuelle Varianten der Kontaktnachverfolgung zu ergänzen und zu beschleunigen. Digitale Verfahren zur Ermittlung von Kontaktpersonen lassen sich in drei Bereiche untergliedern: 1) Reaktion auf den Infektionsausbruch; 2) Kontaktnachverfolgung in der näheren Umgebung (engl. „proximity tracing“); und 3) Nachverfolgung von Symptomen. Wir führten einen Rapid Review zur Wirksamkeit digitaler Lösungen für die Kontaktnachverfolgung bei Ausbrüchen von Infektionskrankheiten durch.

Zielsetzungen: 

Das Ziel des Reviews war es, den Nutzen, Schaden und die Akzeptanz von Konzepten der personenbezogenen digitalen Kontaktnachverfolgung zur Identifizierung von Kontakten eines bestätigten positiven Falls einer Infektionskrankheit zu bewerten.

Suchstrategie: 

Ein Informationsspezialist führte die Literatursuche in CENTRAL, MEDLINE und Embase mit dem Suchzeitraum 1. Januar 2000 bis 5. Mai 2020 durch. Zusätzlich durchsuchten wir das COVID-19-Studienregister von Cochrane.

Auswahlkriterien: 

Wir schlossen randomisierte kontrollierte Studien (RCTs), Cluster-RCTs, Quasi-RCTs, Kohortenstudien, Querschnittsstudien und Modellierungsstudien ein, in denen Allgemeinbevölkerungs-Gruppen untersucht wurden. Wir bevorzugten Studien zur Kontaktnachverfolgung als direkte Evidenz, die während des Ausbruchs einer Infektionskrankheit durchgeführt wurden (einschließlich COVID-19, Ebola, Tuberkulose, schweres akutes Atemwegssyndrom (SARS) und „Middle East Respiratory Syndrome“ (MERS)), berücksichtigten jedoch auch vergleichende Studien zur Kontaktnachverfolgung außerhalb eines Ausbruchs als indirekte Evidenz.

Die digitalen Konzepte variierten, enthielten aber in der Regel Software (oder Firmware), die die Benutzer auf ihren Geräten installierten, oder auf Geräten, die ihnen von Regierungen oder Dritten zur Verfügung gestellt wurden. Zu den Kontrollinterventionen zählten die übliche oder manuelle Kontaktnachverfolgung, selbstverfasste Aufzeichnungen und Umfragen, Interviews, andere Standardmethoden zur Bestimmung enger Kontakte und andere Technologien im Vergleich zu digitalen Konzepten (z.B. elektronische Krankenakten).

Datensammlung und ‐analyse: 

Zwei Review-Autoren sichteten unabhängig voneinander die Einträge und alle potenziell relevanten Volltextpublikationen. Ein Review-Autor extrahierte die Daten von 50% der eingeschlossenen Studien, ein weiterer Autor extrahierte die Daten der restlichen 50%; der zweite Review-Autor überprüfte alle extrahierten Daten. Die Qualitätsbewertung der eingeschlossenen Studien wurde von einem Review-Autor durchgeführt; ein zweiter Autor überprüfte diese Bewertungen. Unsere Endpunkte umfassten die Ermittlung von Sekundärfällen und engen Kontakten, die Zeit bis zum Abschluss der Kontaktnachverfolgung, die Akzeptanz und Zugänglichkeit, Datenschutz- und Sicherheitsbedenken sowie weitere identifizierte ethische Aspekte. In Modellierungsstudien werden prognostische Schätzungen der Wirksamkeit verschiedener Verfahren zur Kontaktnachverfolgung auf die interessierenden Endpunkte errechnet, Kohortenstudien wiederum liefern empirisch erhobene Schätzungen der Wirksamkeit verschiedener Verfahren zur Kontaktnachverfolgung auf die interessierenden Endpunkte. Wir verwendeten GRADE-CERQual, um die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz aus qualitativen Daten zu beschreiben, und GRADE für Modellierungs- und Kohortenstudien.

Hauptergebnisse: 

Wir identifizierten sechs Kohortenstudien mit quantitativen Daten und sechs Modellierungsstudien, die über Simulationen berichteten, welche digitale Konzepte für die Kontaktnachverfolgung untersuchten. Zwei Kohortenstudien lieferten zudem qualitative Daten. Drei Kohortenstudien befassten sich mit der Kontaktnachverfolgung während eines Ausbruchs, und drei Kohortenstudien stellten einen Ausbruch in Settings ohne tatsächlichen Ausbruch (Schulen) nach. Von den sechs Modellierungsstudien evaluierten vier digitale Lösungen für die Kontaktnachverfolgung in Form von simulierten COVID-19-Szenarien, während zwei enge Kontakte in unspezifischen Ausbruchssituationen simulierten.

Modellierungsstudien

Zwei Modellierungsstudien lieferten Evidenz von niedriger Vertrauenswürdigkeit hinsichtlich einer Verringerung von Sekundärfällen mit Hilfe der digitalen Kontaktnachverfolgung (gemessen als durchschnittliche Anzahl von Sekundärfällen pro Indexfall - effektive Reproduktionszahl (R eff)). Eine Studie schätzte eine 18%-ige Reduzierung von R eff mit der digitalen Kontaktnachverfolgung im Vergleich zur Selbstisolation allein und eine Reduzierung um 35% mit der manuellen Kontaktnachverfolgung. Eine andere Studie fand eine Reduktion von R eff bei der digitalen Kontaktnachverfolgung im Vergleich zur Selbstisolation allein (26% reduziert) und eine Reduktion von R eff bei der manuellen Kontaktnachverfolgung im Vergleich zur Selbstisolation allein (53% reduziert). Die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz wurde jedoch vermindert durch unklare Modellspezifikationen sowie Annahmen über die Wirksamkeit der manuellen Kontaktnachverfolgung (angenommen mit 95 % bis 100 % der nachverfolgten Kontakte) und den Anteil der Bevölkerung, der die App nutzen würde (53 %).

Kohortenstudien

Zwei Kohortenstudien zeigten einen Vorteil der digitalen gegenüber der manuellen Kontaktnachverfolgung, bei sehr niedriger Vertrauenswürdigkeit der Evidenz. Im Zuge eines Ebola-Ausbruchs fanden Kontaktnachverfolger, die eine App benutzten, im Durchschnitt doppelt so viele enge Kontakte pro Fall als diejenigen, die Papierformulare nutzten. In ähnlicher Weise stellten Forscher nach einem Keuchhusten-Ausbruch in einem Krankenhaus in den USA fest, dass die RFID („Identifizierung mit Hilfe elektromagnetischer Wellen“) 45 enge Kontakte identifizierte, die Suche auf Basis elektronischer Krankenakten jedoch lediglich 13 fand. Die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz wurde aufgrund von Bedenken hinsichtlich ungenauer Daten (engl. „imprecision“) und des schwerwiegenden Risikos für Bias aufgrund der Unfähigkeit der Studiendesigns, die wahre Anzahl der engen Kontakte zu ermitteln, verringert.

Eine Kohortenstudie zeigte, dass eine App die Zeit bis zum Abschluss der Kontaktnachverfolgung von engen Kontakten verkürzen könnte, bei sehr niedriger Vertrauenswürdigkeit der Evidenz. Die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz für diesen Endpunkt wurde durch Bedenken hinsichtlich ungenauer Daten und ein schwerwiegendes Risiko für Bias beeinflusst. Mit der Nachverfolgung von Kontaktpersonen betraute Teams berichteten, dass digitale Dateneingabesysteme und digitale Verwaltungssysteme schneller als papierbasierte Systeme zu verwenden und möglicherweise weniger anfällig für Datenverluste waren.

In zwei Studien aus Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommensniveau wurde berichtet, dass die Teams zur Nachverfolgung von Kontaktpersonen digitale Systeme für einfacher zu bedienen hielten und sie im Allgemeinen den papierbasierten Systemen vorzogen; sie sparten Personalzeit, verbesserten Berichten zufolge die Genauigkeit bei großen Datensätzen und waren im Vergleich zu Papierformularen leichter zu transportieren. Allerdings sah sich das Personal bei digitalen Systemen im Vergleich zu papierbasierten Systemen mit höheren Kosten und Internetzugangsproblemen konfrontiert.

Die Geräte, die in den Kohortenstudien verwendet wurden, schienen die Privatsphäre von exponierten oder diagnostizierten Anwendern gegenüber Dritten zu wahren. Es bestand jedoch das Risiko der Verletzung der Privatsphäre durch Hackerangriffe, wenn es zu Angriffen auf Datenverknüpfungen (engl. „linkage attacks“) gekommen wäre, insbesondere bei tragbaren Geräten.

Anmerkungen zur Übersetzung: 

A. Wenzel, T. Heise freigegeben durch Cochrane Deutschland.

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