Hintergrund
Opferbefragungen zeigen, dass sexuelle Straftaten weit verbreitet sind und die Überlebenden psychische Probleme haben. Viele Straftaten bleiben jedoch aufgrund fehlender Meldungen und erfolgloser Verfolgung der Straftäter unerkannt.
Medikamente zur Behandlung von Sexualstraftätern (libido-unterdrückende Medikamente) wirken durch Minderung des Sexualtriebs (Libido). Es gibt zwei Arten von Medikamenten. Die einen wirken, indem sie das Testosteron unterdrücken (z.B. Gestagene, Antiandrogene und Gonadotropin-Releasing-Hormon (GnRH)-Analoga), die anderen senken den Sexualtrieb durch andere Mechanismen (Neuroleptika und serotonerge Antidepressiva (SSRI).
Wir untersuchten die Evidenz für die Wirkung solcher Medikamente bei Menschen, die sexuell straffällig geworden waren bzw. bei denen das Risiko bestand, sexuelle Straftaten zu begehen.
Suchdatum
Die Evidenz dieses Reviews ist auf dem Stand von Juli 2014.
Studienmerkmale
Wir fanden sieben randomisierte Studien mit 138 Teilnehmern und Daten zu 123 von ihnen. Alle Teilnehmer waren männlich und zwischen 16 und 68 Jahre alt. Die Straftaten reichten von sehr schweren Vergehen (z. B. Vergewaltigung) bis zu Ordnungswidrigkeiten (z. B. Exhibitionismus). Interventionen wurden mit Placebo (fünf Studien), Psychotherapie (eine Studie) und einer Kombination aus Psychotherapie und medikamentöser Behandlung (eine Studie) verglichen. Fünf Studien untersuchten zu Hause lebende Personen, zwei fanden in der geschlossenen Psychiatrie statt. Die Studien dauerten zwischen drei und 13 Monaten.
Sechs Studien untersuchten die Alltagswirksamkeit von drei Testosteron unterdrückenden Medikamenten: Cyproteronacetat (CPA), Ethinylestradiol und Medroxyprogesteronacetat (MPA). In zwei dieser Studien wurde MPA begleitend zur Psychotherapie gegeben (Selbstbehauptungstraining oder Desensibilisierung (imaginal desensitisation, ID). Die siebte Studie untersuchte die Alltagswirksamkeit zweier Neuroleptika (Benperidol und Chlorpromazin) im Vergleich zu einem Placebo. Eine Meta-Analyse war aufgrund der Heterogenität der Interventionen, Vergleichsgruppen, Studiendesigns und anderer Probleme nicht möglich.
Ergebnisse
Zwei Studien berichteten formell über Rückfallquoten. In einer Studie über intramuskulär verabreichtes MPA neben ID wurde in der zweijährigen Nachbeobachtung für die Interventionsgruppe keine erneute Straffälligkeit beobachtet (n = 10, gegenüber einem einzigen Rückfall in der Gruppe, die nur ID erhielt). Eine dreiarmige Studie zu oral eingenommenem MPA als alleinige Behandlung oder in Kombination mit einer Psychotherapie berichtete über eine erneute Straffälligkeit von 20% bei den Teilnehmern des Studienarms mit kombinierter Behandlung (n = 15) und von 50% in der Gruppe, die nur psychotherapeutisch behandelt wurde (n = 12). Auffällig war, dass alle Teilnehmer im Studienarm „nur oral eingenommenes MPA“ (n = 5) die Studie sofort abbrachen, obwohl sie gerichtlich zu der Behandlung verurteilt worden waren. Zwei Studien berichteten nicht über erneute Straffälligkeiten, da beide in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung stattfanden, aus der kein Teilnehmer entlassen wurde. Drei, an zu Hause wohnenden Personen durchgeführte Studien berichteten nicht formell über erneute Straffälligkeit, sondern richteten ihr Augenmerk allgemein auf „abnorme sexuelle Aktivität“.
Sekundäre Endpunkte: Die Studien berichteten über eine Vielzahl von sekundären Endpunkten. Die Ergebnisse legen nahe, dass die Häufigkeit von selbst berichteten abnormen sexuellen Fantasien durch Testosteron unterdrückende Medikamente verringert werden kann, nicht jedoch die Devianz selbst. Wenn dieser gemessen wurde, tendierte der Hormonspiegel und insbesondere der Testosteronspiegel dazu, mit den Messwerten für sexuelle Aktivität und Angst zu korrelieren. In einer Studie wurden Angst formell gemessen, eine Studie maß Wut/Aggression.
Unerwünschte Ereignisse: Sechs Studien enthielten Daten zu unerwünschten Ereignissen und keine Studie prüfte die Wirkung von Testosteron unterdrückenden Medikamenten über eine Dauer von sechs bis acht Monaten hinaus. Die schwerwiegendsten Ereignisse wurden in einer Studie über Neuroleptika berichtet. Zu den berichteten Nebenwirkungen in zwei Studien zu oraler MPA und CPA gehörte eine erhebliche Gewichtszunahme. Nebenwirkungen von intramuskulär verabreichtem MPA führten dazu, dass einige Personen ihre Teilnahme abbrachen. Über eine bedeutende Zunahme der Depression und übermäßige Speichelbildung wurde in einer Studie zu oral eingenommenem MPA berichtet. In keiner Studie wurde über Todesfälle oder Selbstmordversuche berichtet.
Wir kamen zu dem Schluss, dass diese sieben (vor über 20 Jahren veröffentlichten) Studien, in denen nur eine begrenzte Anzahl von Medikamenten untersucht wurde, nur eine schwache Evidenzgrundlage für Praxisempfehlungen liefern. Die Studien waren nicht nur klein, sie waren auch von kurzer Dauer, schlossen gemischte Teilnehmer ein und in keiner wurden die jüngeren, heute verwendeten Medikamente, insbesondere SSRI oder GnRH-Analoga, untersucht. Die Ergebnisse dieses Reviews erlauben demnach keine eindeutigen Schlüsse hinsichtlich medikamentöser Interventionen als wirksame Intervention zur Verringerung von sexuellen Straftaten.
Es besteht Bedarf an neuen Studien, die diese Schwächen beheben. Auch sollten Daten zu den Merkmalen der Personen erhoben werden, die eine Behandlung ablehnen, abbrechen oder abschließen.
Qualität der Evidenz
Insgesamt war die Evidenz von geringer Qualität. Wir hatten Bedenken zu folgenden Punkten: Anzahl der Teilnehmer, die die Studien abbrachen, Verblindung der Personen, die die Endpunkte erhoben, die Art und Weise, wie die Prüfer die Zuteilung der Behandlung gegenüber den behandelnden Personen verdeckten, und die Berichterstattung zu unserem primären Endpunkt: erneute Straffälligkeit.
Koordination durch Cochrane Schweiz.