Kernaussagen
- Wir sind nur von der Wirksamkeit des Antidepressivums Duloxetin überzeugt. Wir stellten fest, dass eine Standarddosis (60 mg) wirksam ist und dass eine höhere Dosis keine Vorteile bringt.
- Die Daten hinsichtlich unerwünschter Wirkungen sind für alle Antidepressiva sehr schlecht. Künftige Forschung sollte sich damit befassen.
- In der klinischen Praxis könnte bei chronischen Schmerzen eine Standarddosis von Duloxetin in Betracht gezogen werden, bevor andere Antidepressiva ausprobiert werden.
- Ein individueller Ansatz ist entscheidend. Schmerzen sind eine sehr individuelle Erfahrung, und bestimmte Medikamente können bei manchen Menschen wirken, auch wenn die Evidenz nicht schlüssig oder nicht vorhanden ist. Künftige Studien sollten längere Zeiträume umfassen und sich auf die unerwünschten Wirkungen von Antidepressiva konzentrieren.
Was sind chronische Schmerzen?
Chronische Schmerzen sind Schmerzen jeglicher Art, die länger als drei Monate andauern. Mehr als ein Drittel aller Menschen weltweit leidet unter chronischen Schmerzen. Dies wirkt sich häufig auf die Stimmung und das Wohlbefinden der Betroffenen sowie auf ihre Fähigkeit, zu arbeiten und alltägliche Aufgaben zu erledigen, aus.
Wie wirken Antidepressiva bei chronischen Schmerzen?
Antidepressiva sind Medikamente, die ursprünglich zur Behandlung von Depressionen entwickelt wurden. Die verschiedenen Klassen von antidepressiven Wirkstoffen wirken auf unterschiedliche Weise. Antidepressiva, die auf die gleiche Weise wirken, werden in Klassen eingeteilt. Die häufigsten Klassen sind selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (selective serotonin reuptake inhibitors, SSRI), trizyklische Antidepressiva (tricyclic antidepressants, TCA) und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (serotonin-noradrenalin reuptake inhibitors, SNRI). Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Antidepressiva bei Schmerzen wirksam sein können, weil dieselben Nervenbotenstoffe, die die Stimmung beeinflussen, auch Schmerzen beeinflussen können.
Was wollten wir herausfinden?
Wir wollten herausfinden, ob Antidepressiva zur Behandlung chronischer Schmerzen wirksam sind und ob sie unerwünschte Wirkungen haben.
Wie gingen wir vor?
Wir suchten nach Studien, in denen ein Antidepressivum mit einer anderen Behandlung für jegliche Art von chronischen Schmerzen (außer Kopfschmerzen) verglichen wurde. Wir verglichen alle Behandlungen untereinander mit einer statistischen Methode, der so genannten Netzwerkmetaanalyse. Mit dieser Methode können wir die Wirksamkeit der verschiedenen Antidepressiva in eine Rangfolge bringen, von der besten bis zur schlechtesten.
Was fanden wir?
Wir fanden 176 Studien mit 28.664 Menschen mit chronischen Schmerzen. In diesen Studien wurden 89 verschiedene Behandlungsarten oder Kombinationen von Behandlungen untersucht. In den Studien wurde hauptsächlich die Wirkung von Antidepressiva auf drei Arten von Schmerzen untersucht: Fibromyalgie (59 Studien), Nervenschmerzen (49 Studien) und Schmerzen des Bewegungsapparats (z.B. entzündliche Gelenkerkrankungen oder Kreuzschmerzen; 40 Studien). Die am häufigsten untersuchten Antidepressiva-Klassen waren SNRIs (74 Studien), TCAs (72 Studien) und SSRIs (34 Studien). Die am häufigsten untersuchten Antidepressiva waren: Amitriptylin (ein TCA; 43 Studien), Duloxetin (ein SNRI; 43 Studien) und Milnacipran (ein SNRI; 18 Studien). Von den 146 Studien, die ihre Finanzierung offenlegten, wurden 72 von Pharmaunternehmen finanziert. Die durchschnittliche Studiendauer betrug 10 Wochen.
In den meisten Studien wurde ein Antidepressivum mit Placebo verglichen (das wie das echte Medikament aussieht, aber keinen Wirkstoff enthält). In einigen Studien wurde ein Antidepressivum auch mit einer anderen Art von Medikament, einem anderen Antidepressivum, einer anderen Art von Behandlung (wie Physiotherapie) oder einer anderen Dosierung desselben Antidepressivums verglichen.
Die meisten Studien in dieser Übersichtsarbeit lieferten Informationen zur Schmerzlinderung und zu unerwünschten Wirkungen. Weniger Studien berichteten über die Lebensqualität, die Schlafqualität und die körperliche Funktionsfähigkeit.
Hauptergebnisse
- Duloxetin wirkt wahrscheinlich moderat schmerzlindernd und verbessert die körperliche Funktionsfähigkeit ebenfalls moderat. Für dieses Antidepressivum ist die Evidenz am besten. Höhere Dosen von Duloxetin bringen wahrscheinlich keinen zusätzlichen Nutzen im Vergleich zu Standarddosen. Von 1000 Personen, die Duloxetin in Standarddosierung einnehmen, erfahren 435 eine 50%ige Schmerzlinderung, verglichen mit 287, die eine 50%ige Schmerzlinderung unter Placebo erfahren.
- Milnacipran lindert möglicherweise Schmerzen, aber wir sind nicht so sicher wie bei Duloxetin, da es weniger Studien mit weniger Teilnehmenden gab.
- Die meisten Studien schlossen Personen mit psychischen Erkrankungen aus, d. h. die Teilnehmenden wiesen zu Beginn der Studien "normale Werte“ für Angst und Depression auf. Dies schränkte unsere Analyse in Bezug auf das psychische Befinden ein. Mirtazapin und Duloxetin verbessern möglicherweise das psychische Befinden, aber wir sind uns bei diesen Ergebnissen sehr unsicher.
- Wir wissen nichts über die unerwünschten Wirkungen bei der Verwendung von Antidepressiva bei chronischen Schmerzen. Denn es gibt nicht genügend Daten, um sich hinsichtlich unerwünschter Wirkungen sicher zu sein.
Was schränkt die Evidenz ein?
Es gibt noch eine Reihe von Fragen, die wir nicht beantworten konnten:
- Abgesehen von Duloxetin und Milnacipran können wir uns bei den anderen in diese Überprüfung einbezogenen Antidepressiva nicht sicher sein, da es nicht genügend Studien gibt.
- Wir wissen nicht, ob Antidepressiva bei der Schmerzbehandlung langfristig wirksam sind. Die durchschnittliche Dauer der Studien betrug 10 Wochen.
- Es gab keine zuverlässige Evidenz für die Verträglichkeit der Einnahme von Antidepressiva bei chronischen Schmerzen, weder kurz- noch langfristig.
- Wir wissen nicht, wie wirksam Antidepressiva bei Menschen sind, die sowohl unter chronischen Schmerzen als auch unter Depressionen leiden, da in den meisten Studien Betroffene mit Depressionen und Angstzuständen ausgeschlossen wurden.
Wie aktuell ist die vorliegende Evidenz?
Dieser Review ist auf dem Stand von Januar 2022.
B. Schindler, T. Brugger, freigegeben durch Cochrane Deutschland