Interventionen zur Vermeidung und Verringerung der Anwendung von freiheitsentziehenden Maßnahmen in allen Bereichen der Langzeitpflege

Was wurde in diesem Review untersucht?

Freiheitsentziehende Maßnahmen (FEM) sind Vorrichtungen, die verhindern, dass eine Person ihren Körper frei in eine Position ihrer Wahl bewegen kann. Beispiele dafür sind Bettgitter, Gurte und fixierte Tische, die verhindern, dass Menschen aus dem Bett oder einem Stuhl aufstehen können. FEM werden häufig bei älteren Menschen mit demenziellen Erkrankungen oder die nicht mehr gut laufen können, eingesetzt; sowohl in Pflegeeinrichtungen als auch in der eigenen Wohnung. Der Hauptgrund für den Einsatz von FEM ist der Versuch, Stürze und sturzbedingte Verletzungen zu vermeiden oder zu verhindern, dass Personen in fremde Räume gehen oder generell unbeobachtet herumlaufen und sich selbst oder andere in Gefahr bringen.

Es wird allerdings angezweifelt, dass der Einsatz von FEM ein wirksames Mittel ist, um Stürze oder sturzbedingte Verletzungen zu verhindern. Tatsächlich können sich Gehprobleme sogar verstärken und das Sturzrisiko kann sich erhöhen, wenn Menschen für längere Zeit in ihrer Bewegung eingeschränkt werden. FEM können auch Gefühle von Angst, Wut und Unbehagen verstärken und das Wohlbefinden verringern. Weitere unbeabsichtigte Folgen sind ein erhöhtes Risiko für Druckgeschwüre und Inkontinenz sowie direkte Verletzungen durch den Einsatz von FEM. In einigen Ländern ist der Einsatz von FEM in den meisten Fällen verboten und Leitlinien empfehlen den Einsatz von FEM zu reduzieren oder zu beenden.

Was wollten wir herausfinden?

Wir wollten wissen, welche Interventionen am wirksamsten sind, um die Anwendung von FEM bei älteren Menschen in der Langzeitpflege (in Pflegeeinrichtungen oder zu Hause) zu vermeiden oder zu verringern. Interventionen zur Vermeidung und Verringerung der Anwendung von FEM beinhalten meist Schulungen und Training für das Pflegepersonal und manchmal auch Änderungen des Leitbilds und der Organisation der Pflege.

Wie gingen wir vor?

Wir aktualisierten einen Review, der zuletzt im Jahr 2011 veröffentlicht wurde. Wir suchten nach Studien, die Interventionen zur Vermeidung und Verringerung der Anwendung von FEM bei älteren Menschen in der Langzeitpflege untersuchten. Die Studien mussten eine Vergleichsgruppe mit Personen beinhalten, die keine Maßnahme erhielten (eine Kontrollgruppe). Wir schlossen elf Studien ein. Alle Studien wurden in Langzeitpflegeeinrichtungen (Wohn- und Pflegeheime) durchgeführt. Das Durchschnittsalter der Studienteilnehmer*innen lag bei etwa 85 Jahren. In den meisten Studien wurde die Intervention mit der üblichen Versorgung verglichen, in zwei Studien erhielten die Leiter der Pflegeheime in der Kontrollgruppe auch zusätzliche Informationen zu FEM.

Vier Studien untersuchten organisationsbezogene Interventionen, die darauf abzielten, das Leitbild und die Praxis so zu ändern, dass das Pflegepersonal weniger oder keine FEM einsetzte. Ein wichtiger Teil dieser Interventionen war die Schulung von "Champions", die das übrige Personal dabei unterstützen sollten, den Einsatz von FEM zu vermeiden. Sechs Studien untersuchten weniger komplexe Interventionen, die Schulungen für das Pflegepersonal beinhalteten. In einer Studie wurde dem Pflegepersonal eine spezifische Bewertung des Sturzrisikos der einzelnen Bewohner*innen zur Verfügung gestellt.

Was fanden wir heraus?

Unsere Hauptzielgröße war die Anzahl der Personen, bei denen während des Studienzeitraums mindestens einmal FEM angewendet wurden. Wir stellten fest, dass organisationsbezogene Interventionen wahrscheinlich zu einer Verringerung der Personen mit mindestens einer FEM führen und zu einer starken Verringerung der Personen mit einer Gurtfixierung. Eine Studie überprüfte, ob die Bewohner*innen während des Studienzeitraums zu Schaden kamen, es wurden aber keine schädlichen Ereignisse berichtet. Wir fanden keine Belege dafür, dass die Interventionen einen Einfluss auf die Anzahl der Personen mit mindestens einem Sturz oder mindestens einer sturzbedingten Verletzung oder auf die Anzahl der Personen, denen Medikamente zur Verhaltensänderung verschrieben wurden, hatten. Diese Studien wurden überwiegend gut durchgeführt und berichtet.

Bei einfachen Schulungsinterventionen variierte die Qualität der Studien und die Qualität der Berichterstattung, was unser Vertrauen in die Ergebnisse beeinträchtigte. Die Ergebnisse der Studien waren uneinheitlich, so dass wir keine Schlussfolgerungen zur Wirkung dieser Intervention auf die Anwendung von FEM ziehen konnten. In keiner dieser Studien wurden schädliche Ereignisse berichtet. Auch hier fanden wir keine Hinweise darauf, dass die Interventionen einen Einfluss auf die Anzahl der Personen mit mindestens einem Sturz oder mindestens einer sturzbedingten Verletzung hatten, und wir waren unsicher bezüglich der Auswirkungen auf die Verschreibung von Medikamenten.

Eine Studie ergab, dass Informationen für das Pflegepersonal über das individuelle Sturzrisiko der Bewohner*‘innen im Vergleich zur Kontrollgruppe möglicherweise nicht zu einer Verringerung der Anwendung von FEM führt.

Was sind unsere Schlussfolgerungen?

Organisationsbezogene Interventionen, die darauf abzielen, den Einsatz von FEM durch Änderungen des Leitbilds und der Praxis in Pflegeheimen zu reduzieren, verringern wahrscheinlich wirksam die Anzahl der Personen mit FEM insgesamt und mit Gurtfixierungen. Die verringerte Anwendung von FEM führte nicht zu einer höheren Zahl an Stürzen. Wir sind unsicher, ob einfache Schulungsinterventionen die Anwendung von FEM verringern. Interventionen mit Informationen zum Sturzrisiko der Bewohner*innen haben möglicherweise nur geringe oder keine Auswirkungen auf die Anwendung von FEM. Alle Erkenntnisse stammen aus Studien in Pflegeeinrichtungen und sind möglicherweise nicht auf die Pflege im häuslichen Umfeld übertragbar.

Wie aktuell ist die Evidenz?

Die Evidenz ist auf dem Stand vom 4. August 2022.

Schlussfolgerungen der Autoren: 

Organisatorische Maßnahmen, die darauf abzielen, eine Politik der geringsten Einschränkung umzusetzen, reduzieren wahrscheinlich die Anzahl der Bewohner*innen mit mindestens einer PR und wahrscheinlich deutlich die Anzahl der Bewohner*innen mit mindestens einem Gürtel. Wir sind uns nicht sicher, ob einfache Aufklärungsmaßnahmen den Einsatz von Fixierungen verringern, und ob Maßnahmen, die über das Sturzrisiko von Bewohner*innen informieren, zu einem geringen oder gar keinem Unterschied beim Einsatz von Fixierungen führen. Diese Ergebnisse beziehen sich auf Langzeitpflegeeinrichtungen; wir haben keine Studien aus kommunalen Einrichtungen gefunden.

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Hintergrund: 

Körperliche Fixierungen (physical restraints, PR), wie Bettgitter und Gurte in Stühlen oder Betten, werden häufig bei älteren Menschen in der Langzeitpflege eingesetzt, obwohl es eindeutige Beweise für die mangelnde Wirksamkeit und Sicherheit gibt und weit verbreitete Empfehlungen vorliegen, dass ihr Einsatz vermieden werden sollte. Dieser systematische Review zur Wirksamkeit und Sicherheit von Maßnahmen zur Verhinderung und Verringerung der Anwendung körperlicher Zwangsmaßnahmen außerhalb von Krankenhäusern, d. h. in Pflegeheimen und im ambulanten Bereich, stellt eine Aktualisierung unseres 2011 veröffentlichten früheren Reviews dar.

Zielsetzungen: 

Bewertung der Auswirkungen von Maßnahmen zur Verhinderung und Verringerung des Einsatzes körperlicher Zwangsmaßnahmen bei älteren Menschen, die Langzeitpflege benötigen (entweder zu Hause oder in Pflegeeinrichtungen)

Suchstrategie: 

Wir haben ALOIS, das Register der Cochrane Dementia and Cognitive Improvement Group, MEDLINE (Ovid Sp), Embase (Ovid SP), PsycINFO (Ovid SP), CINAHL (EBSCOhost), Web of Science Core Collection (ISI Web of Science), LILACS (BIREME), ClinicalTrials.gov und das Meta-Register der Weltgesundheitsorganisation, das International Clinical Trials Registry Portal, am 3. August 2022 durchsucht.

Auswahlkriterien: 

Wir haben randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) und kontrollierte klinische Studien (controlled clinical trials, CCTs) einbezogen, die die Auswirkungen von Maßnahmen zur Verhinderung oder Verringerung der Anwendung körperlicher Zwangsmaßnahmen bei älteren Pflegebedürftigen untersuchten. Es wurden Studien, die in stationären Pflegeeinrichtungen oder im ambulanten Bereich, einschließlich der Wohnungen der Betroffenen, durchgeführt wurden, berücksichtigt. Wir teilten alle einbezogenen Interventionen anhand ihrer Mechanismen und Komponenten in Kategorien ein.

Datensammlung und ‐analyse: 

Zwei Autor*innen wählten unabhängig voneinander die einzuschließenden Publikationen aus, extrahierten die Studiendaten und bewerteten das Risiko der Verzerrung aller eingeschlossenen Studien. Primäre Ergebnisse waren die Anzahl oder der Anteil der Personen, die mindestens einmal körperlich fixiert wurden, sowie schwerwiegende unerwünschte Ereignisse im Zusammenhang mit der Anwendung von PR, wie Tod oder schwere Verletzungen. Wenn die erforderlichen Daten verfügbar waren, führten wir Metaanalysen durch. Wenn Metaanalysen nicht möglich waren, wurden die Ergebnisse narrativ dargestellt. Wir verwendeten die GRADE-Methode, um die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz zu beschreiben.

Hauptergebnisse: 

Wir identifizierten sechs neue Studien und schlossen insgesamt 11 Studien mit 19.003 Teilnehmenden in diesen aktualisierten Review ein. Alle Studien wurden in stationären Langzeitpflegeeinrichtungen durchgeführt. Zehn Studien waren RCTs und eine Studie ein CCT. In alle Studien wurden Menschen mit Demenz einbezogen. Das Durchschnittsalter der Teilnehmenden lag bei rund 85 Jahren.

Vier Studien untersuchten organisatorische Maßnahmen, die darauf abzielten, eine Politik der geringsten Einschränkung umzusetzen; sechs Studien untersuchten einfache pädagogische Maßnahmen; und eine Studie testete eine Maßnahme, bei der das Personal Informationen über das Sturzrisiko der Bewohner*innen erhielt. Die Kontrollgruppen erhielten in den meisten Studien nur die übliche Betreuung, in zwei Studien wurde allerdings zusätzliches Informationsmaterial über die Verringerung körperlicher Zwangsmaßnahmen bereitgestellt.

Bei acht Studien wurde das Risiko der Selektionsverzerrung als hoch oder unklar eingestuft. Das Risiko einer Verzerrung der Berichterstattung war in einer Studie hoch und in acht Studien unklar.

Die organisatorischen Maßnahmen zur Förderung eines Politik der geringsten Einschränkung umfassten eine Vielzahl von Komponenten, wie die Schulung des Personals, die Ausbildung von "Verfechtern" einer einschränkungsarmen Praxis und Komponenten, die darauf abzielten, eine Änderung der institutionellen Politik und der Pflegekultur zu erleichtern. Wir fanden Evidenz von moderater Vertrauenswürdigkeit, dass organisatorische Maßnahmen, die auf die Umsetzung einer Politik der geringsten Einschränkung abzielen, wahrscheinlich zu einer Verringerung der Zahl der Bewohner mit mindestens einer Anwendung von PR (RR 0,86, 95% CI 0,78 bis 0,94; 3849 Teilnehmende, 4 Studien) und einer starken Verringerung der Zahl der Bewohner mit mindestens einer Anwendung eines Gurtes zur Ruhigstellung (RR 0,54, 95% CI 0,40 bis 0,73; 2711 Teilnehmende, 3 Studien) führen. In der einen Studie, die über dieses Ergebnis berichtete, traten keine unerwünschten Ereignisse auf. In einer Studie gab es Hinweise darauf, dass organisatorische Maßnahmen wahrscheinlich die Dauer der Anwendung körperlicher Zwangsmaßnahmen verringern. Wir fanden heraus, dass die Interventionen möglicherweise nur geringe oder keine Auswirkungen auf die Anzahl der Stürze oder sturzbedingten Verletzungen haben (niedrige Vertrauenswürdigkeit der Evidenz) und wahrscheinlich nur geringe oder keine Auswirkungen auf die Anzahl der verschriebenen psychotropen Medikamente haben (moderate Vertrauenswürdigkeit der Evidenz). Eine Studie kam zu dem Ergebnis, dass organisatorische Maßnahmen die Lebensqualität nur geringfügig oder gar nicht verbessern (hohe Vertrauenswürdigkeit der Evidenz), und eine andere Studie kam zu dem Ergebnis, dass sie die Unruhe nur geringfügig oder gar nicht verringern (niedrige Vertrauenswürdigkeit der Evidenz).

Die einfachen pädagogischen Maßnahmen sollten das Wissen verbessern und die Einstellung des Pflegepersonals zu körperlichen Fixierungen ändern. Einige Maßnahmen umfassten neben der Aufklärung weitere Komponenten zur Unterstützung des Wandels, wie Beratung auf den Stationen. In einigen Studien fanden wir bei der PR-Prävalenz deutliche Ungleichgewichte zwischen den einzelnen Gruppen, was auf die geringe Anzahl von Clustern in den Interventions- und Kontrollgruppen zurückzuführen sein könnte. Eine Studie beschäftigte sich nicht mit Bettgittern (am häufigsten in Pflegeheimen verwendete Methode der Fixierung). Hinsichtlich der Anzahl der Bewohner*innen, die mindestens einmal fixiert wurden, waren die Ergebnisse uneinheitlich. Die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz ist sehr niedrig, und wir sind uns nicht sicher, wie sich einfache Aufklärungsmaßnahmen auf die Zahl der Bewohner*innen mit PR auswirken. In keiner der Studien wurden schwerwiegende unerwünschte Ereignisse berichtet. Die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz ist moderat, dass einfache Aufklärungsmaßnahmen wahrscheinlich nur zu einem geringen oder gar keinem Unterschied in der Intensität der Fixierung führen, und dass sie möglicherweise nur einen geringen oder gar keinen Effekt auf Stürze, sturzbedingte Verletzungen oder Unruhe haben (jeweils niedrige Vertrauenswürdigkeit der Evidenz). Aufgrund der niedrigen Vertrauenswürdigkeit der Evidenz sind wir uns nicht sicher, wie sich einfache Aufklärungsmaßnahmen auf die Zahl der Teilnehmenden mit einer Verschreibung von mindestens einem Psychopharmakon auswirken.

Eine Studie untersuchte eine Maßnahme, bei der das Pflegepersonal über das Sturzrisiko der Bewohner*innen informiert wurde. Wir fanden Evidenz von niedriger Vertrauenswürdigkeit, dass die Bereitstellung von Informationen über das Sturzrisiko von Bewohner*innen zu einem geringen oder gar keinem Unterschied bei der durchschnittlichen Anzahl von PR oder der Anzahl von Stürzen führt. In der Studie wurden unerwünschte Ereignisse nicht erfasst.

Anmerkungen zur Übersetzung: 

R. Möhler, B. Schindler, freigegeben durch Cochrane Deutschland

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